Falsche Ideale – was wirklich zählt in der Exterieurbeurteilung

Nach welchen Kriterien selektieren wir überhaupt Sportpferde? Ideale sind im Wandel, heißt es da häufig. Aber nach meiner Erfahrung bleiben die wirklich wichtigen Elemente im Pferdesport bei aller Wandlung der Optik bestehen. Aber sind wir bereit, sie neu zu entdecken? Gedanken zu einer Weiterentwicklung der Exterieurbeurteilung mit dem Blick auf den Spitzensport.

Was ist denn überhaupt „gut“?

Inhalt

Das Exterieur eines Pferdes ist nach meiner Wahrnehmung niemals für sich genommen „gut“ oder „schlecht“, sondern kann nur gut geeignet sein für eine bestimmte Aufgabe. Oder auch nicht geeignet für eine Reitsportdisziplin. In jedem Pferd lassen sich aber Potentiale erkennen, nur vielleicht nicht in der für den Besitzer gewünschten Sparte.

Stattdessen höre ich in der Exterieurlehre immer wieder starke Wertungen bei jeglicher Abweichung von der Norm. Dieses orientieren an einer Schablone halte ich für einen Fehler. Denn dies kann bedeuten, dass wir nicht auf die richtigen Faktoren selektieren, wenn wir an dem Modell der bisherigen Exterieurbeurteilung festhalten. Ich persönlich denke die Zeit der Exterieurbeurteilung nach einer Schablone ist wirklich vorbei.

Und damit stellen sich viele neue Fragen:

  • Wie selektieren wir die Sportler von morgen? (z.B. Körung vs Sportleistung)
  • Mit welchen Methoden möchten wir dabei vorgehen? (z.B. lineare Beurteilung)
  • Welchen starren Glaubenssätzen möchten wir anhängen? (z.B. Früher war alles besser!)
  • Wie viele Gegenbeispiele zu einer Theorie darf es geben? (und was, wenn ausgerechnet der Topsport die größten Abweichungen liefert?)

Abweichung tolerieren

Es geht nicht nur darum, dass bestimmte Abweichungen von der Norm existieren. Sondern, dass sie offensichtlich keine Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit eines Pferdes haben. Das war aber doch der Grund, warum wir aussortieren, oder nicht?

Das Vorhandensein von Fehlstellungen und unperfekten Exterieur im Springsport ist für mich ein klarer Hinweis darauf, dass andere Faktoren einen größeren Einfluss haben, als das harmonische Exterieur. Diese Elemente genauer zu untersuchen ist für mich der richtige Weg, der vorwärts gewandt ist.

Unwissen aushalten

Manche Dinge, die einen einfachen Zusammenhang aufzeigen, sind nicht so richtig wie man meint. Kleines Beispiel gefällig? Früher dachte man, dass schwere Objekte schneller fallen, als leichte. Solche Dinge sollte man also überprüfen, nicht einfach glauben.

Nur weil man erkennt, dass etwas nicht funktioniert, heißt das aber nicht automatisch, dass man eine Alternative bieten kann. Manche Probleme haben (noch) keine Lösung. Das ist aber für Menschen nur schwer auszuhalten. Wir suchen als Menschen einfache Lösungen und es gibt keinen Mangel an Anbietern davon. (Das Phänomen sorgt auch für Zulauf bei Politikern und Parteien, die faktisch nicht in der Lage sind, oder gar den geistigen Horizont haben, das Problem zu lösen.)

Wir versuchen als Menschheit seit jeher Komplexität in einem einfachen Modell zu begreifen, wie bei einer Maschine. Statt zu erkennen, dass es sich bei dem absurd komplexen und weiterhin offenen Evolutions-Experiment, um den sich auch bei einem Sportpferd handelt, keine einfachen Lösungen gibt.

Noch ein kleines Beispiel: Bis heute ist es nicht gelungen, einen zweibeinigen Roboter zu bauen, der sich bewegt wie ein Mensch. Sagt das nicht alles aus über die Vielfalt und Unergründbarkeit mancher Phänomene aus? Wie genial die Natur doch ist – ich bin davon völlig begeistert!

Dennoch glauben wir im Reitsport daran, dass unsere Vorgehensweise von Anno dazumal sich auch bis heute nicht optimieren lässt. Der Glaube versetzt bekanntlich die Berge. Aber ich persönlich bin ein großer Fan von Daten und Fakten. Wenn diese etwas anderes sagen, bin ich geneigt, dem mehr Glauben zu schenken, als dem althergebrachten Wissen. Ich bin ohnehin ein Mensch, der viel selber ausprobiert und nicht ruht, bis eine Lösung für ein Problem gefunden ist.

Wunsch nach Harmonie

Ich kann auch gut verstehen, warum Schablonen, ganz ähnlich wie Kochrezepte, den Menschen Hilfestellung geben. Starre Regeln geben eine Orientierung in einer Welt voller Optionen.

Dem Mensch gefallen auch in der Kunst Dinge, die symmetrisch und gefällig sind. Der goldene Schnitt in der grafischen Gestaltung ist ein Beispiel davon. Ich selbst male und fotografiere, bin also ein kreativer Mensch und denke daraus ein ganz gutes Verständnis für Formen gewonnen zu haben.

Aber wenn man mir sagt, dass was dem Auge gefällig ist, auch einen Sportler ausmacht, werde ich skeptisch. Ich habe den Eindruck, wir selektieren in der Pferdezucht viel zu sehr auf schicke Schablonen, statt auf Funktionalität.

Dass Körperharmonie eines Pferdes (so wie wir sie in Deutschland verstehen) einhergeht mit Leistung, ist ein Umstand, den es zu überprüfen gilt. Das haben viele Züchter bis heute nicht verstanden, die den Blick ins Ausland scheuen und sich in der Pferdezucht immer noch als den Nabel der Welt betrachten.

Wer sich an der Abweichung von der Norm aufhält, wird erst einmal den Beweis erbringen müssen, dass diese Anomalie wirklich ein Problem im Sport verursacht. Diese Arbeit haben wissenschaftliche Studien erledigt und die liegen bereits seit Jahrzehnten vor. Dennoch hat sich kein Umdenken aus diesem Wissen ergeben.

Dabei gibt es durchaus ein paar Vorschläge, wie es besser geht:

Diese 3 Punkte sollten sich ändern!

  • Statt Jungpferden Sportler zum Vorbild nehmen

Auffällig ist, dass sich die Beurteilung von Pferden zumeist an jungen Pferden orientiert und dort eine Idealvorstellung zum Maßstab erhebt. Wesentlich zielführender würde ich es empfinden, die Elite Sportpferde zu betrachten und daraus Rückschlüsse auf die Bedürfnisse des Sports zu ziehen. Denn nicht die Schönlinge auf der Körung setzen die Maßstäbe, sondern die Erfolgspferde im realen Sport.

Ich verstehe natürlich, dass sich Zuchtfortschritt nur dann erzielen lässt, wenn wir eine schnelle Generationsfolge einhalten und uns nach vorne orientieren. Aber für mich persönlich ist der Leistungssport das wesentlich attraktivere Fernziel als die reine Vermarktung in jungen Jahren.

  • Hebel statt Winkel

Physikalisch benennbare Probleme wie Kraftvektoren in den Beinen sind nicht von der Hand zu weisen. Ebenso wenig wie eine erstrebenswert Neutralität in den Stellungen der großen Gelenke. Das ist alles in der Tiermedizin/ Ganganalyse bekannt.

Die schiere Physik gibt uns andere Antworten und trotzdem lernen wir weiter von alten Schablonen. Für mich wird sich zu viel mit Winkeln aufgehalten und viel zu wenig über Hebel gesprochen, die für die Aufgabe nötig sind.

  • Exterieur vs Körperhaltung

Wir doktern an den Symptomen von schlechter Haltung, unzureichendem Training und verteufeln bestimmte Merkmale des Exterieurs, statt zu lernen sie geschickt zu nutzen. Ich sehe ständig den Fokus von Beurteilungen auf Themen, die sich mit gutem Training abstellen lassen oder eine reine Frage der Körperhaltung sind. Wir sollten uns von den veränderlichen Themen abwenden und uns den unveränderlichen zuwenden. Um den Unterschied zu lernen, siehe: Exterieur oder Körperhaltung.

Fazit

Vielleicht denkst Du, das ist jetzt ein bisschen arg viel Wind zu einem solch beschaulichen Thema, wo so lange friedliche Eintracht geherrscht hat. Aber mir geht es um mehr als darum, mit einer Theorie Recht zu behalten. Denn die Gesundheit unserer Pferde hängt davon ab, welche Entscheidungen wir in Sport und Zucht mit Pferden treffen. Ebenso wie die Wirtschaftlichkeit unserer Entscheidungen, auf welches Pferd wir setzen.

Ich persönlich sehe da eine große Dringlichkeit, die Menschen zum Umdenken zu bewegen und ein bisschen wach zu rütteln. Denn es gibt bessere Ansätze, wenn man bereit ist, die eingetretenen Pfade zu verlassen.

Die Art der Nutzung bestimmt die Form des Pferdes, die hierzu geeignet ist. Wir dürfen anfangen, die passende Aufgabe und Reitstil für das Pferd zu finden. Dann kann es auch seine Stärken ausspielen. Ich möchte Pferdebesitzer dazu bewegen, wieder mehr auf das Individuelle Pferd zu achten.

Ich bin sicher die Erste, die nach positiven Aspekten von bestimmten Exterieurmerkmalen Ausschau hält. Aber es geht gar nicht darum, Fehler schön zu reden. Es geht darum, aus ihnen zu lernen, dass Konformität offensichtlich keine Notwendigkeit ist. Und noch viel mehr geht es darum, sich stattdessen auf die Aspekte zu fokussieren, die wirklich wichtig sind für ein Sportpferd.

Habe ich Dein Interesse an dem Thema geweckt? Wenn Du Deine Pferdebeurteilung auf das nächste Level bringen willst und es ganz genau wissen möchtest, habe ich genau das Richtige für Dich! Um ein Pferd richtig einzuschätzen, schau Dir meinen Onlinekurs Pferdekenner an!

Weiter mit einem ähnlichen Thema: Exterieur oder Körperhaltung? oder Leistung ohne Verschleiß

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3 Gedanken zu „Falsche Ideale – was wirklich zählt in der Exterieurbeurteilung“

  1. Halo,
    Ich habe dein Artikel hochinteressant gefunden ! Bravo ! Entschuldige bitte mein schlechtes Schul-Deutsch. Ihr Blog ist sehr gut und nützlich.
    Ich persönlich habe viele AA in Vielseitigkeit geritten die waren nicht Exterieur-perfekt aber solche Pferde gut zu reiten ist sehr interssant und ich finde Qualitäten könnnen Defekte ausgleichen wenn die Intelligent geritten sind.
    Ich trainiere jetz eine aus den Rennbahn gekaufte Vollblutstute die zu Tag 5 jährig ist. Hat einen guten Exterieur die Hals ist aber niedrig gepflanzt. Im springen nützt Sie ihren Hals sehr gut… Im flatwork ist es nur schwerer auf den hand diese zu reiten aber gar nicht unmöglich…
    Ihr Artikeln lese ich mit viel Spass !

    Liebe Grüsse aus Frankreich

    Guy

    Antworten
  2. Halo Iris,

    Vielleicht hast du diese video schon gesehen, finde ich auch sehr interessant. Die beispiel- Pferde sind aus einer vorige generation aber illustrieren gut über das Thema. Oder ?

    Aus YouTube: Danny Marks Conformation Lecture 2008
    „In this 2008 lecture at the George Morris Horse Mastership Clinic in Wellington Florida, USET team veterinarian Danny Marks uses photos of the world’s greatest show jumpers to illustrate his observations on conformation and how it relates to performance.“

    Liebe Grüsse

    Guy

    Antworten
    • Hallo und vielen Dank für diesen Tipp. Genau dieses Video habe ich vor Jahren auch schon ausgegraben und mit einem Glas Wein am Abend gleich mehrfach angeschaut. Ideal für einen Blick darauf, welche Vielfalt an Exterieur der Springsport bei Vollblütern zulässt. LG

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