Anatomie in Harmonie – Exterieurbeurteilung

Der Anfänger möchte bei der Erlernung der Exterieurbeurteilung oftmals am liebsten ein Arsenal an Schablonen, das er auf die Pferde Anatomie anlegen kann. Also deutliche Aussagen wie: eine lange Maulspalte ist gut, eine kurze Maulspalte ist schlecht. Klarheit durch absolute Aussagen. Warum das in meinen Augen ein Trugschluss ist.

Wahrscheinlichkeiten abwägen

Inhalt

Die heutige Form der Exterieurlehre orientiert sich nach meiner Wahrnehmung nicht an Individuen, sondern an Wahrscheinlichkeiten.

Das ist ein bisschen wie mit Röntgenbefunden. Es wiegt den Käufer in Sicherheit, vermeintlich über die Schwachpunkte eines Pferdes Auskunft zu erhalten.

Das Problem dabei: In der Praxis ist der Röntgenbild oft kein guter Ratgeber. Manche Pferde mit Kissing Spines laufen als Springpferd Olympiade, andere schaffen es noch nicht einmal, einen Freizeitreiter zu tragen. Das Röntgenbild sagt nichts darüber aus, wie sich das Pferd im Sport entwickeln und halten wird.

Fehlergucker

Es ist auch für einen Anfänger leicht, zu erkennen, ob ein Pferd von der Norm abweicht. Das ist simpel zu erklären und zu beurteilen. Die Aussage ist eindeutig: Gerade ist richtig, krumm ist falsch.

Das verführt sich die Beurteilung eines Pferdes allzu einfach zu machen.

Denn die Natur denkt nicht so schwarz-weiß.

Ich habe ein großes Vertrauen in die Natur und dass sie die Dinge sinnvoll entwickeln wird. Also auch Anpassungen vornimmt, die sinnvoll sind, ohne uns Menschen davon zu unterrichten. Es liegt an uns, die Feinheiten herauszufinden und unsere Schablonen anzupassen. Dafür ist eine offene Herangehensweise absolut unerlässlich. Sonst entgehen uns die Feinheiten.

Wer meint, Aussagen über das Exterieur verlieren über Jahrzehnte, trotz einer Änderung der Nutzung der Pferde, nicht an Bedeutung, der macht es sich zu einfach.

Das Pferd als Individuum beurteilen

Was fehlt, ist die Auseinandersetzung mit dem tatsächlichen Pferd. Wir müssen lernen, das Pferd zu beurteilen, statt anderer Leute Vorurteile und Glaubenssätze herunterzubeten.

Das finde ich das Furchtbare. Niemand hat Praxiserfahrungen mit einem Exterieurproblem vorzuweisen, aber alle eine Meinung zu einer bestimmten Verstellung. Ich sage nicht, wir sollten Pferde mit Verstellungen züchten, nur um zu sehen, wie haltbar sie sind. Aber realistisch betrachtet hat die wahnhafte Aussortierung aller Abweichungen von der Norm über Jahrzehnte doch mit Sicherheit alles ausgemerzt, was wirklich schädlich war.

Denn das was die Natur darüber hinaus als Varianz vorsieht, erfüllt einen Zweck. So ist das auch mit Springpferden mit geradem Hinterbein, tiefen Halsansatz und steiler Schulter. Wenn der Sport solche Exemplare hervorbringt, dann nicht, weil das eine Fehlentwicklung ist, sondern weil die Natur uns zeigt, dass es Sinn macht, diese Variante zuzulassen. Das lässt auf einen evolutionären Vorteil schließen.

Warum ist das so?

Ich glaube in den Zeiten, wo diese Hinweise entwickelt wurden, waren manche anatomischen Probleme des Pferdes schlicht gravierender, als sie es heute sind.

Gesamtüberblick behalten

Vor lauter klein, klein Beurteilung von bestimmten Merkmalen verlieren wir den Blick für das Pferd als Gesamtes.

Bei der Erlernung der Exterieurlehre wird in meinen Augen viel zu oft Schräubchenkunde betrieben, statt Gesamtzusammenhänge zu erfahren.

Über das Exterieur zu sprechen, als wären es einzelne Punkte der Anatomie, die man nacheinander abarbeiten kann, ist extrem problematisch. Denn diese Punkte hängen nicht nur zusammen, sondern verändern sich auch gegenseitig. Denn bestimmte Eigenschaften können die Balance des Pferdes verändern.

Wie eine Person auf einer Schaukel, die ihr Gewicht verlagert, um Schwung zu holen, kann ein Pferd bestimmte Mankos durch Muskelkraft an der entsprechenden Stelle kompensieren. Ein Muskel, der oft benötigt wird, der wächst. Diese Muskelmasse weist also manchmal nicht auf einen Bodybuilder hin, sondern auf Kompensationsmuster. Wenn diese Muskulatur an der „falschen“ Stelle für die Aufgabe ist, verrät viel über die fehlende Balance des Körpers.

Ein Pferd nach einzelnen anatomischen Aspekten beurteilen zu wollen, das ist so, als wollte man die Statik eines alten Hauses beurteilen, ohne den Keller und das Dachgeschoss jemals betreten zu haben. Damit kommt man nicht weit.

Ich kann bei einem Pferd unmöglich einzelne Aspekte behandeln, ohne auf andere Themen einzugehen. Und ein Pferd mit strukturellen Defiziten, kann sich zwar mit besserer Muskulatur und Training länger halten, aber wird davon nicht geeigneter.

Wofür ist ein Pferd gut geeignet?

Mich stört auch die Schwarz-weiß Malerei. Eine Eigenschaft muss entweder gut oder schlecht, positiv oder negativ sein. Dabei lautet doch die wirkliche Frage: Ist es gut für eine bestimmte Aufgabe? Denn ein Pferd ist nur in Relation zu dem ihm zugedachten Job realistisch zu beurteilen. Es ist extrem selten universal gut oder schlecht für ein Pferd bestimmte Eigenschaften mitzubringen.

Für mich bedeutet ein gutes Exterieur immer, gut für den vorgesehenen Job als Reitpferd oder auch als Springpferd. Das ist nicht dasselbe.

Fazit

Ein gutes Exterieur ist in meinen Augen immer ein Exterieur, das strukturell für die gewünschte Aufgabe geeignet ist. Ein Pferd ist mehr als die Summe seiner Einzelteile. Ein Pferd hat zudem Einstellung und Charakter. Es ist deswegen nicht leicht, Pferdebeurteilung so absolut zu formulieren, weil Pferde sich nicht in diese Schubladen packen lassen. Die Anatomie ist nur ein Puzzlestück dazu.

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Weiter mit einem ähnlichen Thema: Exterieur des Sportpferdes oder Haltbarkeit des Sportpferdes

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1 Gedanke zu „Anatomie in Harmonie – Exterieurbeurteilung“

  1. Sehr geehrte Fr. Wenzel,
    ich lese Ihre Gedanken zum modernen Pferd ganz gerne. Aber manchmal sind mir Ihre Aussagen doch zu pauschal.
    Es ist sicher richtig, dass
    -ein Pferd mehr ist als die Summe seiner Einzelteile
    -man kein Pferd als Fehlergucker nach Schablone beurteilen sollte
    – im (Hoch)-Leistungssport so manches Pferd nicht dem Ideal entspricht
    Aber diese Pferde gewinnen nicht wegen ihrer körperlichen Individualität, sondern trotz ihrer Eigenheiten. Nicht vergessen darf man: ihnen steht ein sehr guter Reiter zur Seite mit meist optimalen Möglichkeiten. Alles in allem dürften weniger Top-Sportler ohne idealen Körper unterwegs sein als Freizeit-Pferde .

    Es ist sicher richtig, dass v.a. Exterieur-Mängel des Knochengerüstes durch die Zucht herausselektiert worden sind. Und dass es körperliche Unterschiede zwischen Dressur- und Springpferden gibt, ist sicher auch das Ergebnis der Zucht. Ob die breite Masse der Freizeitreiter dann einen Spezialisten braucht, sei dahin gestellt, aber alle Freizeitreiter dürften von möglichst ausbalancierten, korrekt gestellten Pferden ohne größeren körperlichen Probleme nur profitieren. Kissing-Spines dürften Normalreitern i.d.R. unlösbare Probleme bereiten. Röntgenbilder sind auf jeden Fall aussagekräftig, v.a. dann wenn sie Chips oder Zysten in großen Gelenken aufdecken. Training belastet Gelenke, kostet Geld und Zeit des Besitzers.
    Über Jahrzehnte, denn die Natur hat das Pferd zwar so in Varianzen geschaffen, aber was heute fehlt, ist das Raubtier. Und um in Ihrem Bild zu bleiben: Die Natur muss Tiere hervorbringen, die von anderen gefressen werden können. Für den Menschen aber ist der Schlachter keine Alternative und kein Tierarzt euthanasiert ein Pferd, weil es Beschwerden beim Laufen hat. Ich habe i.Üb. gehört, die Quote der „Frührentner“ nehme stark zu. Gerade am Exterieur ist eben schon vieles „gut“.
    Sollte ich Ihren Blog völlig missverstanden haben, bitte ich um Entschuldigung.

    mfG
    Monika

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