Wie bekommt man den Vollblüter ruhig?

Der Vollblüter gilt vielen Reitern als besonders schwierig im Umgang. Wie man den Vollblüter beruhigen kann, darum geht es in diesem Artikel. Er richtet sich vor allem an Vollblut-Neulinge, die erstmals auf Vollblüter treffen und vielleicht noch nicht ganz sicher im Umgang mit ihnen sind.

Ein Pferd ist nach meiner Erfahrung dann schwierig im Handling, wenn es seelisch oder körperlich aus dem Gleichgewicht ist. Das klingt dezent esoterisch, ist es aber bei näherer Betrachtung überhaupt nicht.

Während dies die häufigste Ursache für Probleme ist und vergleichsweise simpel klingt, ist es gar nicht so einfach diese Ursachen in der Praxis abzustellen. Denn es gibt meist keine Schritt für Schritt Anleitung, die für jedes Pferd allgemeingültig ist. Jedes Pferd hat seine eigenen Befindlichkeiten, auf die der Besitzer einzugehen lernen muss.

Diese Hinweise gelten natürlich auch für alle Pferde gleichermaßen. Der Vollblüter neigt nur dazu, sensibler auf sein Umfeld zu reagieren und seinen Stress eher nach außen zu tragen. Was ein Warmblüter maximal zu Unmut veranlasst, das quittiert ein Vollblüter mit Verspannung oder handfestem Widerstand. Oder wie es der Vollblut-Experte Kai Jasper Spengemann gerne formuliert: „Ein Vollblüter ist auch nur ein Pferd.“

Viele der nachfolgenden Tipps klingen vielleicht bei erster Lektüre banal. Dennoch haben sie eine entscheidende Rolle und diese Punkte zu übergehen, würde vermutlich jede noch so große Bemühung des Reiters den Vollblüter beruhigen zu wollen in anderen Bereichen zunichtemachen.

Losgelassenheit

Inhalt

Vollblüter profitieren davon, wenn man nicht krampfhaft versucht, sie aufzuhalten. Sie können Stress am besten mit Bewegung kompensieren. Der Ausgleich nach vorn gestattet ihnen Dampf abzulassen.

Es ist dennoch ein Trugschluss davon auszugehen, sie mal ordentlich nach vorn zu schicken, damit sie „müde werden“, wie man es mit Warmblütern gern tut, die zu Beginn einer Reitstunde unausgelastet wirken. Das funktioniert nach meiner Erfahrung überhaupt nicht, weil dies außer Acht lässt, dass ein Vollblüter ein Rennpferd ist und für ihn nichts leichter ist, als Gas zu geben.

Nun dürfen Sie kurz raten, wer dabei den längeren Atem haben wird.

Richtig: der Vollblüter.

Ich bin zwar großer Verfechter davon, Pferden die Gelegenheit zur Beschleunigung und Geschwindigkeit zur seelischen Zufriedenheit zu geben. Dennoch ist es in meinen Augen oft kontraproduktiv, um einen Vollblüter zu beruhigen. Manchen fällt es nicht schwer, nach einem frischen Galopp am langen Zügel wieder zur Ruhe zu kommen, viele tun dies auch erstaunlich diszipliniert im Gelände.

Aber ein Pferd, das auf der Flucht ist, wird nicht ruhiger davon, dass man es laufen lässt. Man muss die Ursache für den Wunsch zur Flucht finden. Das gelingt nach meiner Erfahrung im Sattel von Vollblütern deutlich nachhaltiger in der Ruhe. Diese muss oft sanft „erzwungen“ werden, weil es genau das Gegenteil von dem ist, was der Vollblüter von sich aus anbietet.

Das bedeutet Pausen nicht nur zu gestatten, sondern aktiv einzufordern. Dem Pferd soll klar werden, dass in einem unausgeglichenen Gesamtzustand nicht gearbeitet wird. Erst wenn das Pferd gedanklich wieder bei Ihnen ist, wird weitergemacht. Wer das konsequent einfordert, der wird über die Ergebnisse erstaunt sein! (siehe auch: Denkpausen gezielt nutzen)

Oft funktioniert es besser, dem Vollblüter eine gedankliche „Leitplanke“ zu bieten mit Handlungsoptionen innerhalb der gesetzten Schranken, als auf ein ganz bestimmtes Verhalten zu bestehen. Das sorgt für Stress, wenn Unverständnis herrscht. Eine kulante Form der Konsequenz, wie Michael Geitner den Begriff geprägt hat, finde ich sehr zutreffend.

Fütterung

Die Bedeutung der Heufütterung kann nicht überstrapaziert werden. Gerade Vollblüter sind in den heutigen Pensionsställen nach meiner Beobachtung oft unterversorgt. Sie haben einen hohen Muskeltonus und Energiebedarf, der nicht mit einem Warmblüter vergleichbar ist. (siehe auch: Vollblüter rundfüttern)

Viele Reiter staunen nicht schlecht, wenn sie in einem Vollblut-Betrieb sehen, was für Mengen diese Sportler so verdrücken. Es lohnt sich, sich etwas mehr mit dem Bedarf des Blutpferdes auseinanderzusetzen.

Haltung

Nur wenn ein Pferd körperlich ausgelastet ist, kann es sich auch geistig auf Arbeit mit dem Menschen einlassen. Dazu gehört die Grundbedürfnisse des Pferdes zu erfüllen. Das klingt selbstverständlich, ist es aber in der Praxis oft nicht.

Ein Pferd, das nur stundenweise Auslauf von Boxenhaltung bekommt, wird nicht artgemäß gehalten. (siehe auch: Zusammenhang zwischen Haltungsbedingungen und Krankheit) Manche Pferde finden sich mit diesen Rahmenbedingungen zurecht. Normal ist das aber nicht. Zum Glück geht der Trend immer mehr in Richtung besserer Haltungsbedingungen für Pferde. Auf vielen Reitsportanlagen sind die Verhältnisse aber noch immer deutlich suboptimal. Vielen Vollblütern hilft ein vorhersehbarer Tagesablauf mit maximalen Möglichkeiten der freien Bewegung unter freundlich gesinnten Artgenossen. Viele Pferde, die im Pensionsstall kaum zu bändigen sind, sind bei 24 Stunden Dauerweide nicht wieder zu erkennen.

Es gibt aber keine perfekte Haltung für jedes Pferd und was funktioniert muss ganz individuell für dieses eine Pferd herausgefunden werden. Manche Pferde verkraften den sozialen Stress in großen Gruppen unter beengten Verhältnissen nicht und es fehlt ihnen an Gelegenheiten zur Ruhe zu kommen.

Fazit

Pauschale Lösungen gibt es nicht, um den Vollblüter zu beruhigen. Dennoch sind die 3 Elemente Losgelassenheit, Fütterung und Haltung für mich die wichtigsten Punkte, um den Vollblüter glücklich zu machen. Dann wird er automatisch ruhiger. Der Selbstversuch lohnt.

Weiter mit einem ähnlichen Artikel: Zusammenhänge zwischen Muskelfasertyp und Sportleistung oder Die Mähr vom spätreifen Blutpferd

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7 Gedanken zu „Wie bekommt man den Vollblüter ruhig?“

  1. Hallo Frau Wenzel,

    „Er richtet sich vor allem an Vollblut-Neulinge, die erstmals auf Vollblüter treffen und vielleicht noch nicht ganz sicher im Umgang mit ihnen sind.“

    Da bin ich ja genau die richtige Zielperson des Beitrags gewesen. Ich muss zu mir sagen, dass ich sowieso vor nicht allzu langer Zeit in den Reitsport eingetreten bin. Als kleines Kind wollte ich eigentlich schon immer reiten und mit Pferden was machen, aber hatte sich damals leider nie ergeben… jetzt im Erwachsenenalter ergibt sich endlich die Möglichkeit. Auch aus finanzieller Sicht. Ich merke zwar, dass ich im Vergleich zu den Kindern/Jugendlichen länger brauche, um gewisse Techniken zu erlernen, aber der Spaß am Reiten und am Tier ist so groß, dass ich einfach beharrlich lerne und versuche am Ball zu bleiben.

    Ich bin auch sehr dankbar für diesen sehr informativen und hochwertigen Artikel! Meiner Meinung nach sollte man sich auch außerhalb der Reithalle sich mit dem Thema Pferd beschäftigen. Es gibt so viel zu lernen und zu wissen. Und da denke ich doch, dass ich hier den richtigen Schritt mache. Wenn man mit Pferden was zu tun haben will, geht es primär nicht nur ums Reiten. So die Worte meiner Reitlehrerin. Es ist viel mehr… die Fütterung. So ist es auch meine Aufgabe das Futter in solch ein Futtertrog zu füllen. Oder auch die Pflege. Das Pferd brauch viel Zuneigung, welche ich auch bieten möchte.

    Pferde sind einfach fantastische Tiere! Vielen Dank für den Artikel!
    D. V. 🙂

    Antworten
  2. Kämpfe seit 8 Jahren mit meiner Trakehner Stute , Mutter direkt von Heraldik also noch 52 Ps . Eine Fliege an der Wand kann schon zu viel sein .Sieht der Reitplatz anders aus oder die Springständer stehen anders gibt es kein vorbei kommen. Sie ist jetzt 12 etwas ruhiger nicht mehr 300 PS nur noch 150 . Weiß mir manchmal keinen Rat mehr, liebe dieses Pferd aber .Anleinen nicht nötig sie steht beim putzen bandagieren besser frei .

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  3. Vielen Dank für diesen toll gestalteten, fachlich kompetenten und sehr informativen Blog, den ich durch Zufall gefunden habe!
    Hier werde ich noch viel Zeit verbringen!
    Martina B.

    Antworten
  4. Hallo Frau Wenzel,

    „Oft funktioniert es besser, dem Vollblüter eine gedankliche „Leitplanke“ zu bieten mit Handlungsoptionen innerhalb der gesetzten Schranken, als auf ein ganz bestimmtes Verhalten zu bestehen.“

    Kann ich das näher ausgeführt haben, bitte!?
    An Beispielen z.B..

    Vielen Dank.

    LG Vanessa A.

    Antworten
  5. Hi,
    erstmal finde ich den Artikel auch super, hab selber 2 Vollblüter seit mehr als 10 Jahren…. ich musste ein paar mal schmunzeln, weil es wirklich so zutreffend ist…
    Haltungstechnisch hatte ich in der ganzen Zeit fast alles durch, damals angefangen bei Boxenhaltung mit zeitlich begrenzter Koppel bis inzwischen Offenstall mit ganztägig Paddocktrail + Koppel… jedes bisschen mehr Freiheit war eine Verbesserung für das Wohlbefinden, den Umgang und auch die Rittigkeit… Pferde sind eben Herden- und keine Höhlentiere… 😉
    und ja, ist der Hammer, was die Jungs an Futter vertragen…
    In Bezug auf den Umgang/Reiten habe ich gelernt, meinen Pferden innerhalb der gesetzten und ja auch notwendigen Grenzen genügend Spielraum zu geben, somit muß ich nicht ständig „nein“ sagen und kann statt dessen jeden Schritt in die richtige Richtung bestätigen: ja super gemacht! Darüber freuen wir uns dann beide 😉

    Antworten
  6. Sehr gut beschrieben. Ich habe seit 15 jahren einen vollblüter und sobald ich ihm seinen Freiraum zum Mitgestalten nehme, kann es schwierig werden. Sobald der Freiraum da ist, habe ich das zufriedenste und coolste Pferd der Welt! Ich habe Jahre gebraucht, um das zu verstehen, dass ein solches Pferd nie einfach nur „funktioniert“, sondern dass ich permanent auf seine Tages(!)befindlichkeit eingehen muss. Das klingt jetzt nach einem unerzogenen, mir auf der Nase herumtanzenden Typ, aber es ist exakt das Gegenteil. Er ist einfach ein Freigeist und das muss man ihm lassen, dann geht alles. Das ist die gedankliche Leitplanke – klar bestimme ich letztendlich, was geht und was nicht, aber je mehr Freiheit ich ihm lasse, desto kooperativer ist er. Das Problem mit Beispielen dazu ist: es wirkt immer wie “ der Reiter, der den Kampf verliert“. Das ist es aber nicht, sondern es ist eine Art gemeinsame Entscheidung. Wenn ich etwas bestimmtes an einem Tag durchziehen will, kann es sein, dass er nicht mitzieht. Dann brauch ich es gar nicht machen, denn es wird frustig für beide. Dafür eröffnet sich aber der kreative Raum, aus dem wir beide dann sehr zufrieden herausgehen. Aber das gilt wahrscheinlich dann auch wieder für alle Pferde:) ja, und fressen muss er auch sehr viel mehr als all die anderen. Ich füttere als einzige im Stall Hafer in höheren Mengen, werde dafür natürlich besserwissend kommentiert, aber sehe ein gesundes, zufriedenes, ruhiges (!) Pferd.
    Fazit: vollblüter mögen es nicht, angemotzt und geknechtet zu werden, sie mögen eine Art Beziehung auf Augenhöhe, sonst verweigern sie das Mitmachen. Und das finde ich sehr schön!

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    • Ja genau. Keine Sklaven, sondern Mitarbeiter. Und sie kommen durch Bewegen zur Ruhe. Immer wieder den Zügel hingeben,auch wenn es sich schnell anfühlt. Forttraben/galloppieren aber mit Nein abmahnen
      Bei fortwährender Hektik absitzen und Nachdenk- u. Grasepausen machen
      Lieber allein oder mit ruhigem Kumpel ausreiten
      weite und interessante Strecken gehen
      Auf dem Platz Westernaufgaben und Trailsachen eher als Dressur reiten
      immer schön abwechseln und auch Bekanntes wiederholen
      Longieren ödet Vollblüter an

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