Tanja Richter hat in ihrem Buch „Illusion Pferdeosteopathie“ den Begriff Trageerschöpfung geprägt. Ehrlich gesagt finde ich den Begriff „Trageerschöpfung“ nicht ganz passend, denn eine Erschöpfung impliziert, dass dieser Zustand eine Folge von zu viel Reiten – also „zu viel des Guten“- sei. Das ist aber nicht der Fall. Es besteht ein grundlegendes Problem zwischen Pferd und Reiter, was zu einem krankhaften Schaden des Pferdes geführt hat.
Gängige Definition
Inhalt
Es handelt sich eben nicht um einen Zustand der „Ermüdung“ – wie der Name impliziert – der mit ein bisschen Ruhe vorübergeht. Im Gegenteil; das Pferd nimmt Schaden, weil es nie gelernt hat einen Menschen ohne eigenen Verschleiß zu Tragen. Es besteht also erheblicher Handlungsbedarf.
Einzig in einem Punkt ist der Begriff treffend, weil ein Pferd mit Trageerschöpfung vom Tragen des Reiters erschöpft ist und als Konsequenz daraus nicht mehr geritten werden darf. Aus Mangel an Alternativen und weil es sich so eingebürgert hat, verwende ich diesen Begriff hier dennoch.
Was ist eine Trageerschöpfung und wie sieht sie aus?
Trageerschöpfung ist ein Oberbegriff für ein Pferd in körperlicher Disbalance und nicht so sehr eine eigenständige Krankheit, sondern eine Summe an Symptomen.
Eine Tragerschöpfung kann aber Auslöser von handfesten Krankheiten sein (Spat, Hunter’s Bump, Kissing Spines, Arthrose, Sehnen-/ Fesselträgerbeschwerden), optischen Mangelzuständen (Schwerfuttrigkeit, Muskelschwund) oder „nur“ Rittigkeitsprobleme verursachen (Verspannungen, Schwunglosigkeit, Taktverlust).
Das Pferd kann das Gewicht auf seinem Rücken oder sein Eigengewicht nicht tragen und verspannt daher Bauch-, Rücken-, Schulter-, Nacken- und Kruppenmuskulatur, um tragen zu können. Aus diesem Kreislauf kann es ohne Hilfe zumeist nicht ausbrechen.
Was sind klassische Anzeichen für Trageerschöpfung?
Worauf man als Reiter achten sollte sind folgende Merkmale.
Körperliche Anzeichen
- Unterhalsmuskulatur ist stärker ausgeprägt als der Oberhals (ab 4. Halswirbel)
- Zwischen Schulterblättern hängender Rumpf, Brustkorb sackt nach unten (man denke an Spargelfurchen ziehen mit dem Brustbein)
- Brustbein hervorstehend zwischen den Vorderbeinen
- Schultermuskulatur verspannt, Kompensation: starke Muskelzubildung vor dem Schulterblatt
- Nackenband deutlich zu sehen (Axthieb)
- Widerrist weist Lücken oder regelrechte Löcher auf, wo Muskeln sein sollten (Muskelatrophie)
- Das Pferd ist bauchig, die Rippen sind nach außen gebogen
- Rücken hängt durch (Senkrücken)
- Sichtbare Aufwölbung der Lendenwirbelsäule (Karpfenrücken) oder Hunter’s Bump
- Bauchmuskeln sind verkürzt und fest (Dampfrinne)
- viel Vorderpferd im Vergleich zur schwachen Hinterhand; Kompensation: starke Hosen (Superman-Figur),
- im Standbild zeigt das Pferd untergeschobene Hinterbeine (vorständig) und/ oder untergeschobene Vorderbeine (rückständig)
- Lautes Auffußen, das Pferd stampft auf
- Weiche Fesselung, die stark durchbiegig ist
- Untergeschobene Trachten
Anzeichen beim Reiten
Die körperlichen Merkmale sind bereits nicht immer leicht zu sehen. Der Bewegungsablauf des Pferdes wird als kratzig und flach beschrieben. Das Pferd hat Schwierigkeiten in der Biegung.
Reiter beklagen aber oft unspezifische Probleme wie:
- Leistungseinbußen des Sportpferdes,
- Mängel in der Rittigkeit,
- Geringe Gehfreude oder Eiligkeit,
- Widersetzlichkeit ohne erkennbare körperliche Ursachen (Sattel, Zähne, Rücken etc. sind durchgecheckt und unauffällig).
Weiterhin typisch ist, dass der Zügel dem Pferd als Stütze dient. Die Pferde legen sich vehement auf den Zügel und liegen schwer auf der Reiterhand. Die Reiter solcher Pferde haben oft Nackenschmerzen und starke oder verspannte Oberarme und klagen darüber, dass das Pferd sie nicht sitzen lässt.
Trageerschöpfte Pferde sind keine Ausnahme
Bei dem Begriff Trageerschöpfung denkt man gemeinhin an ein altes Pferd ohne jede Muskulatur, mit einem handfesten Senkrücken und ausgeprägten Hirschhals.
Aber Vorsicht, das stimmt so nicht!
Dicke Fettschichten sind für den Laien kaum von Muskulatur zu unterscheiden, somit wirkt das propere Pferd gesünder. Ein schlechter Ernährungszustand hilft dabei die Defizite zu sehen, die ansonsten unter Fettschichten versteckt liegen. Die Probleme verschwinden aber nicht, wenn das Pferd wieder runder wird, sie werden nur besser kaschiert.
Wer sich im Reitstall umsieht, wird mit geschultem, aufmerksamen Blick plötzlich viele Pferde wahrnehmen, die über keinerlei Rückenmuskulatur verfügen und bei genauer Betrachtung körperlich nicht in der Lage sind, einen Reiter zu tragen, ohne sich selbst zu schaden.
Man sollte sich daher als Reiter von der Vorstellung verabschieden Trageerschöpfung sei ein Ausnahmezustand.
Im Gegenteil zeigen etwa 90% der Reitpferde in meinem Umfeld leichte bis deutliche Symptome einer Trageerschöpfung. Darunter auch Pferde mit aktuellen S-Platzierungen im Reitsport, dies ist also kein Phänomen, das nur Freizeitreiter betrifft oder von dem sich „bessere“ Reiter automatisch freisprechen können.
Gute Absicht ist kein Schutz
Ursache für eine Trageerschöpfung kann natürlich schlechtes Reiten sein. Es braucht aber nicht zwingend einen schweren Reiter oder unpassenden Sattel dazu. Eine harte Hand, schlecht ausbalancierter Sitz oder Mangel an Feingefühl seitens des Reiters können schon ausreichen. Die Ursachen auf Pferde- und Reiterseite können vielfältig sein.
Es ist auch falsch anzunehmen, es gehöre viel Kraft dazu, ein Pferd in die Trageerschöpfung zu Reiten. Selbst mit einem pferdeschonenden oder wohlmeinenden aber falsch verstandenen Entlastungs-Reitstil kann es passieren, dass ein Pferd einfach nicht stark genug konstruiert ist, um dieser Belastung standzuhalten.
Manche Pferde schaffen es dennoch trotz Trageerschöpfung lange Zeit einen Reiter zu tragen, was für ihre Leidensfähigkeit spricht.
Manche Pferde kompensieren besser als andere, teilweise bis zur Selbstaufgabe und unter massiven körperlichen Verschleiß-Erscheinungen. Insbesondere, wenn sie viel Lob für ihre Tätigkeit erhalten oder Spaß an der Aufgabe haben. Andere lassen sich diesen Zustand nicht gefallen und wehren sich aktiv gegen den Reiter. Das ist unter anderem eine Frage des Charakters, gemeinhin als schwierig abgestempelte Pferde sind mitteilsamer und weniger duldsam.
Tragen will gelernt sein
Ein Pferd ist ein Lauftier und kein Lastenträger. Es klingt banal, aber einem Pferd ist das Tragen eines Reiters nicht in die Wiege gelegt. Das richtige Tragen lernt es entweder irgendwie von alleine, oder es erträgt den Reiter – so lange es eben gut geht.
Zumeist wird einem Pferd beim klassischen Anreiten nicht beigebracht, wie man einen Reiter trägt, ohne daran Schaden zu nehmen.
Im Gegenteil; die meisten Reiter haben nicht mal im Entferntesten eine Ahnung davon, wie das aussehen würde. Denn dazu gehört sich grundlegend mit Themen wie Art des Auffußens, Stützbeinphasen und pathologischen Bewegungsmustern Gedanken zu machen. Nur dann kann man sehen lernen und erkennen, welche Form der Bewegung Schaden anrichtet.
Probleme schon beim Anreiten vermeiden
Anreitmethoden, bei denen Pferde roh von der Weide gezogen und innerhalb kürzester Zeit einen Menschen tragen müssen, helfen nicht wirklich. Es ist vielerorts immer noch üblich, junge Pferde vor dem Anreiten nicht groß anzutrainieren, damit es „nicht so stark wird“ und sich womöglich gegen den Reiter wehrt. Solche Methoden sind prädestiniert dafür, nachhaltig Schaden anzurichten.
Aber auch bei der wildromantischen Wendy-Fraktion kursieren falsche Vorstellungen vom ungerittenen Pferd, dem gern voll Idealismus robuste Gesundheit unterstellt wird. Das ist sicher der Idealfall, aber bei genauem Hinsehen eben nicht die Norm. Trageerschöpfung kann nämlich sehr wohl junge und sogar rohe Pferde betreffen.
Ein junges Pferd ist nicht automatisch „unverbraucht“, nur, weil es roh ist. Ein junges Pferd kann sein Körpergewicht ebenso wie ein altes auf eine Art fortbewegen, die ungesund ist und auf Dauer körperlichen Schaden anrichtet.
Dies nicht nur, weil es im Wachstum phasenweise immer wieder überbaut ist und auf der Vorhand hängt. Vielmehr kann auch das junge Pferd während der Aufzucht durch Krankheit, Blockaden oder falsche Bewegungsmuster vorbelastet sein, die korrigiert werden sollten, bevor das Pferd geritten wird. Oder zumindest soweit reduziert, dass das Pferd im wahrsten Sinne des Wortes belastbar wird.
Es ist übrigens normal, dass ein junges Pferd zu Beginn des Anreitens noch nicht voll belastbar ist. Es muss sorgsam aufgebaut werden mit Blick auf die Warnsignale, die eine Überlastung signalisieren.
Was kann man tun?
Nun ist das Kind in den Brunnen gefallen. Das Pferd ist trageerschöpft, entwickelt sich nicht wie gewünscht, ist wehrhaft, ständig krank. Jetzt muss der Reiter erst einmal absteigen, ich denke das ist deutlich genug rübergekommen. Aber was tut solchen Pferden gut und wie kann man die Reiter-freie Zeit so sinnvoll überbrücken, dass sich etwas grundlegend ändert?
Die gute Nachricht: Eine Trageerschöpfung lässt sich behandeln.
Die schlechte Nachricht: Eine Behandlung ist langwierig und man wird garantiert nicht so weiterreiten können wie bisher. (Zumindest, wenn man selbst für den Zustand des Pferdes verantwortlich ist und es nicht gerade erst neu gekauft oder angeritten hat.)
Der Aufbau des Pferdes vom Boden aus dauert je nach Schwere der Erkrankung des Pferdes von etwa 6 Monaten bis zu einem Jahr. In weniger dramatischen Fällen mag es mit ein paar Wochen Übungen vom Boden aus getan sein. Sofern der Reitstil wirklich grundlegend geändert wird oder ein anderer Reiter auf dem Pferd sitzt.
Die Lösung klingt vergleichsweise simpel, aber das macht es nicht einfach damit umzugehen. Zu versuchen das Pferd statdessen rund zu füttern, durch straff ausgebundene Longenarbeit die Rückenmuskulatur zu stärken, ist Symptombehandlung. Man kann über Monate an den Symptomen umherdoktern, ohne die Ursache abzustellen.
Sofortmaßnahmen
- Reitweise kritisch prüfen!
- Sattel durch Sattler überprüfen lassen
- Behandlung des Pferdes durch Osteopathie/ Physiotherapie
- das Pferd anatomisch sinnvoll Longieren (siehe z.B. Longenkurs Teschen)
- Equikinetic (siehe Michael Geitner)
- Spaziergänge mit dem Pferd in unebenen/ hügeligem Gelände, ob zu Fuß, als Handpferd oder neben dem Fahrrad her
Fazit
Es lohnt den Blick zu schulen für die Anzeichen, dass ein Pferd noch nicht zu Tragen gelernt hat. Hier herrscht deutlich mehr Handlungsbedarf, als Reiter gemeinhin mitbekommen. Der Weg zum Profi für Unterstützung ist zwar hilfreich, aber nicht alle haben den feinen Blick für diese Details.
Es ist die beste Gesundheitsvorsorge für das eigene Pferd, wenn Pferdebesitzer gelernt haben, nach Zeichen von Überlastung Ausschau zu halten
Weiter mit einem ähnlichen Thema: Dressur naturgemäß oder Hunter’s Bump
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Liebe Iris,
Ich finde, dass du einen einfach großartigen Artikel geschrieben hast. Stimmig erklärt, angenehm zu lesen, einfach super! Und das schreibe ich sogar, obwohl ich den Leistungssport mit Pferden inzwischen komplett ablehne und wir da bestimmt nicht auf einer Wellenlänge wären. Weiter so!
Christiane Urban von OmniCaro und dem Barhuf-Institut